Im Gespräch mit ... Juan Gruben

Im Gespräch mit ... Juan Gruben

1 Stunde 53 Minuten

Beschreibung

vor 2 Tagen

Wie rutscht ein komplexes, gesellschaftliches System in eine
Abwärtsbewegung hinein? Die befremdliche Antwort ist vielleicht,
dass die Bewohner selbst, wie die verarmenden Adligen des 19.
Jahrhunderts, kein wirkliches Krisenbewusstsein entwickeln,
sondern über lange Zeit ein sentimental geschöntes, zunehmend
haltloses Selbstbild aufrechterhalten. Schon aus diesem Grund ist
der Blick eines Außenseiters interessant, umsomehr, wenn dieser,
wie Juan Gruben, an leitender Stelle, gleich mehrere
Staatsbankrotte hat begleiten und beobachten können.


Als der junge Deutsch-Argentinier Juan Gruben, 1954 in Buenos
Aires geboren, im Jahr 1980 als Trainee nach Deutschland kam,
verliebte er sich sogleich in dieses Land. Denn auf rätselhafte
Weise schien im Wirtschaftswunderland alles perfekt zu
funktionieren. Nicht bloß, dass die Züge auf die Minute pünktlich
ankamen und wieder abfuhren, zudem konnte er Dinge gewärtigen,
die ihm aus seinem von Inflation und Militärdiktatur geplagten
Heimatland Argentinien gänzlich unbekannt waren: Rentner, die
anstatt in die Armut und die gesellschaftliche
Bedeutungslosigkeit zu gleiten, ihr Leben genossen, zudem eine
Nachbarschaftlichkeit, die dem zuvor nur reklamierten Begriff der
gesellschaftlichen Solidarität eine Lebenswirklichkeit zuführte.
Das Überraschendste aber war, dass es in dieser saturierten
Gesellschaft etwas gab, was als höher noch galt als der Reichtum:
nämlich der Geist, jene Reputation, die jenen Schichten
entspringt, die man gemeinhin bildungsbürgerlich nennt - und all
dies war Grund, Deutschland zur Wahlheimat zu machen.


Freilich musste der junge Mann, der für die Dresdner Bank eine
steile Bankkarriere hinlegte, der zunächst die Lissaboner
Repräsentanz übernahm, dann zum Senior Country Manager in Buenos
Aires aufstieg, erleben, dass mit jedem Heimaturlaub sein schönes
Deutschlandbild eine weitere Beschädigung aufwies – und dass dies
nicht zuletzt mit dem Aufstieg des neoliberalen Denkens
zusammenhing. Zwar wurde man in den Bankenkreisen nicht müde, von
Humankapital und Personalmanagement zu sprechen, gleichwohl
schien es, als ob auch die Mitarbeiter nichts weiter waren als
Zahlen, Passiva, die man idealiter freisetzen oder durch
billigere Arbeitskräfte ersetzen konnte. Hatte man in den
Anfangszeiten der Digitalisierung nur die Salden der Konten, mit
Codes versehen, an ein Rechenzentrum geschickt, wurde im Verlaufe
der Zeit das ganze Geschäftsmodell der Bank ausgelagert –
begnügten sich die Banken damit, ihren Kunden jene Papiere und
Fondsanteile zu verkaufen, die von Rating Agenturen mit einem
Triple-A versehen worden waren. Mochte dies ein Spiel für
risikoadverse Lemminge sein, konnte Juan Gruben gleich zweimal in
Südamerika erleben, was passiert, wenn ganze Volkswirtschaften in
einen Bankrott hineinschlittern. Zum Zeugen eines solchen
Desasters zu werden, bei dem Geld-Volatilität und
Gesellschaftschaos einander die Hand reichen, wo vor allem
Kurzsichtigkeit, Sozialdarwinismus und Korruption reüssieren, ist
eine Erfahrung, die nur wenigen Menschen zuteil wird – und aus
diesem Grunde war der gemeinsame Rückblick darauf, wie sich im
letzten halben Jahrhundert das Bankenwesen, aber auch das Modell
Deutschland einer schleichenden Zerrüttung hat anheimfallen
können, eine höchst anregende Unterhaltung, eine Unterhaltung, an
deren Ende sich die sonderbare Einsicht einstellt, dass
Argentinien nun überall ist. Dass nun auch die Bewohner seiner
Wahlheimat von den Gespenstern des Zerfalls,
Deindustrialisierung, Inflation, politischer Destabilisierung,
heimgesucht sind, ist dem bekennenden Helmut Schmidt-Fan ein
Gräuel. Und da sich die Sozialdemokratie von ihren eigenen Werten
entfernt hat, hat der alte Sozialdemokrat seine Mutterpartei
verlassen und engagiert sich nun in in seinem Heimatkreis
Pinneberg in der Kommunalpolitik.


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