Studio B Klassiker: Eines Tages

Studio B Klassiker: Eines Tages

11 Minuten
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Beschreibung

vor 17 Stunden

Wir sind am Ende. OK, des Jahres zunächst, aber wenn man den
Gedanken seiner Freunde lauscht, den Medien und folgerichtig oft
genug den eigenen, scheint das Ende nah zu sein. In den USA
gewinnen die falschen, in Frankreich fast. Wurde 2018 die
Erhöhung der durchschnittlichen Temperatur um 1,5 Grad noch auf
2030 bis 2050 prognostiziert ist es, huch, schon dieses Jahr
soweit. Cool, cool. Von Kriegen nur zwei Landesgrenzen entfernt
reden wir kaum noch. Weihnachten ist nur, wenn man
Rheinmetall-Aktien hat.


Wohin fliehen? In die Lyrik? Es spricht eine Menge dafür, wie vor
acht Jahren schon mal aufgeschrieben. Es lohnt die Wiederholung
der Argumente.


"Ein Gedicht! Sag ein Gedicht auf!", befiehlt der Weihnachtsmann
der Göre und das Geflenne geht los. So entsteht Abneigung für die
Urform verbaler Kunst, noch bevor sich ein erster Buchstabe in
der Sehrinde manifestiert, das Zerebellum genug Kontrolle über
Zunge und Stimmband hat, das erste dreisilbige Wort verständlich
formulieren zu können.


Was schade ist, denn das Gedicht ist lebensnotwendig.


Schon am ersten Abend des Daseins auf der Welt wird der noch
blinde Korpuskel von der Mutter in den Schlaf gewiegt mit
"LaLaLa" und "Schlaf mein Kind", während der stolzgeschwellte
Erzeuger mit seinen Kumpels "Zwan-zig Zentimeter" grölend dem
Wohnhause zu wankt, um in der Hecke davor zu schlafen.
Überlebensnotwendige Erkenntnisse, wie die, dass der Reiter
plumps macht, wenn er in den Graben fällt, schließen sich nur
kurze Zeit später an, und dass der Hase krank ist, wenn er in der
Grube sitzt, vermittelt dem Jungomnivoren das erste Mal die
Erkenntnis, dass auch Essen Gefühle hat.


Alles wunderbare, amüsierende, interessante Dinge, die man lernt,
wenn man Gedichte hört, doch schnell nimmt der Erkenntnisgewinn
von Erzählungen ab, die das Schwimmen von allen (!) meinen (!)
Enten auf dem See beschreiben, zumal wenn der Landvogt dem jungen
Wilderer schmerzhaft vermittelt, dass sich Besitzstand nicht
durch dessen Behauptung erlangen lässt. Also werden die Gedichte
länger, die Worte komplizierter, die Handlung nicht sofortig und
die Erkenntnisse nicht augenscheinlich. Willkommen im
Literaturunterricht.


Schnell bemerkt man, dass es nicht nur kompliziert ist, Gedichte
zu verstehen, das reine Vorlesen klingt bei jedem Schüler
grauenhaft, und wenn der Lehrer es beispielhaft versucht, hat das
mit Mutters Wiegenliedern allenfalls den Effekt gemein. Muss man
im Unterricht Balladen über längst ersoffene Steuermänner
ertragen, unterwegs auf großen Seen zwischen Kanada und den
Vereinigten Staaten, deren Bezug zur persönlichen Lebenssituation
sich nicht erschließt, mit zu vielen Pickeln an sichtbaren und
nicht genug Haar an verborgenen Stellen und dann - verdorrt
extrakurrikulär die letzte blaue Blume der Sympathie für die
Lyrik im Kichern dämlicher Ziegen oder Böcke beim Lesen des
ersten poetischen Versuches, in Wahrheit des 23ten, der den Weg
doch in nur eine ganz spezielle Schiefermappe finden sollte.
Karola Matschke ist SO doof.


Abends im Bett, flennend, den Kopfhörer auf der Kaltwelle hört
man dann - ja, was? Gedichte. Vertonte Gedichte von Leuten, die
offenbar die richtigen Worte finden:


When we wandered through the rain/ And promised to each other/
That we'd always think the same/ And dreamed that dream/ To be
two souls as one


die einen S**t geben auf Jamben und Hebungen und wenn man das
Teil über das Girl in Paris, so beautiful and strange, zum 14.
Mal hört, war es nicht einmal langweilig, man hat viel gelernt:


so beautiful and strange:/ Until you spoke/ "I hate these people
staring./ Make them go away from me!"


und schläft endlich ein, in den Schlaf gewiegt, wie es der Mutter
"LaLaLa" nicht hätte sanfter tun können.


"Ja, das ist ja Musik", sagt der befragte Teenager, "was hat das
mit Gedichten zu tun?".


"Sehr viel", erwidert der aufgeklärte Literat und


"Alles!!", steigert es semi-kompetent aber bestimmt Herr
Falschgold.


Denn schon bald dreht sich dein Leben nicht mehr ausschließlich
um Karola, Justin oder Kevin, aber Songs bleiben ob als
Philosophieunterricht, wenn es die Gene und Interessen hergeben:


Oh you understand change and you think it's essential,


und wenn nicht, dann findet der alberne Teenie vorzeitig gealtert
zurück, zu den "zwanzig Zentimetern" seines Erzeugers, was okay
ist, jeder hat seine Träume und Gedichte helfen, sie nicht zu
vergessen.


Man beginnt Liedgut in der Muttersprache zu hören, es geht
schließlich nicht mehr darum, der coolste Honk auf dem Hof zu
sein, und wenn man Geschmack hat und das Glück, in halbwegs der
richtigen Zeit aufzuwachsen, findet man ein deutschsprachiges
Album, das beides ist: cool wie Honk und tief wie Rilke. Es war
damals schon 10 Jahre alt und trifft einen empfänglichen
20-jährigen zerebralen Grufti ins Hirn:


Es liegt ein Grauschleier über der Stadt/ den meine Mutter noch
nicht weggewaschen hat


und ist zudem zeitlos komponiert und arsch-tight auf die Musik
getextet, es knackt und packt dich mit jeder Zeile:


Richtig ist nur was man erzählt/ benutze einzig was dir gefällt/
Bau dir ein Bild so wie es dir passt/ sonst ist an der Spitze für
dich - kein Platz/


Monarchie und Alltag heißt die Fehlfarben größte Platte,
erschienen 1980 und in meiner Rangliste 19 Jahre unübertroffen.


1990 begann ein gewisser Jochen Distelmeyer am Thron zu sägen,
zusammen mit seinen Freunden in der Band Blumfeld. In den ersten
Alben rough in Ton und Text findet Jochen Distelmeyer 1999 seine
Stimme und zu Recht von ihr begeistert beginnt das Album mit
einem Gedicht von 5 Minuten und 47 Sekunden Länge


Wie ein Leben aus Rhythmus, Inhalt und Beschreibung besteht,
beschreibt "Eines Tages", Track 1 auf Blumfelds 1999er Album Old
Nobody, ein Leben durch Rhythmus, Metapher und Sprache. Des
Lebens Gleichförmigkeit abgebildet in Distelmeyers lakonischem
Vortrag ist es ein kompliziertes und so sind die Metaphern, die
es beschreiben. Aber auch ein kompliziertes Leben kann schön
sein, wenn man es beschreibt wie Jochen Distelmeyer. Es zu hören
macht nicht bitter, denn man kann physiologisch dem
Metaphernstakkato nicht lang folgen. Es füllt die
Verarbeitungseinheiten bis sie überlaufen, GIGO nennt man das in
der IT, Garbage in, Garbage out. Was nicht verarbeitet wurde,
wird unverarbeitet ausgeschieden. Irgendwann gibt der Dekodierer
auf und überlässt das Hirn dem Rhythmus, gelegentlich angeregt
von feinen Worten, fremden Sprachen, alles andere ist - Trance.


Oder, ein Bild für den romantischen Hörer, "Eines Tages" beginnt
wie eine Karussellfahrt, die ersten Runden sieht man die Eltern
noch, die Freundin, den Freund, bald sieht man nur noch Farben.
Man ist allein mit sich und seinen Gedanken, gelegentlich tauchen
Schemen auf und verschwinden wieder, es könnte ewig so
weitergehen. Und doch merkt man den Zenit, wie die Runden
unmerklich länger werden, man kann sich fast schon wieder
konzentrieren auf das Außen, die Metaphern werden wieder klarer.
Auf einmal spürt man, dass der kleine Anfall von Depression sich
gen Ende neigt, eine klare Verlangsamung jetzt, gleich ist's
vorbei, doch noch nicht, die letzte Runde, doch noch eine und
dann Stillstand. Schluss. Pause. Und der erste Song beginnt, mit
einem Himmel voller Geigen.


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