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vor 1 Woche
Es ist Weihnachten. Und doch hören wir heute keine Geschichte
über Jesus, sondern über eine Gestalt, deren Ursprung noch weit
länger zurückliegt: Odysseus. Er war und ist heute noch in
Griechenland der beliebteste unter den mythischen Helden, jener,
der auf seinem Heimweg vom Trojanischen Krieg etlichen Gefahren
ausgesetzt war. Im 12. Gesang der „Odyssee“ lässt Homer ihn von
seinem Zusammentreffen mit den verführerischen und zugleich
mörderischen Sirenen berichten. Selbstverständlich erträgt der
Held das Leiden, das ihr Gesang bewirkt – und zwar ohne Wachs in
den Ohren, lediglich mit Tauen gefesselt. Seitdem gilt Odysseus
als einziger Mensch, der jemals dem Gesang der Sirenen
widerstand. Keinem anderen gelang dies, alle anderen starben.
Jedoch: Kann man dem extrem listenreichen Odysseus überhaupt
trauen? Sollte man den Worten, die von einem bekanntermaßen sehr
unzuverlässigen Erzähler stammen, überhaupt Glauben schenken?
Oder eher jenem, der mehr als 2500 Jahre später auftaucht und das
alles ganz anders erzählt?
Bei Franz Kafka hat der Held dann doch Wachs in den Ohren,
zusätzlich wird er am Mast „festgeschmiedet“. Odysseus, der hier
gar nicht heldenhaft wirkt, eher naiv und kindisch, segelt „in
unschuldiger Freude über seine Mittelchen“ den Sirenen entgegen
und – überlebt. Das allein wäre nicht mehr als eine satirische
Version des antiken Stoffes. Doch das kleine Textstück „Das
Schweigen der Sirenen“ beleuchtet das Geschehen in einem
beiläufig erwähnten, angeblich auch überlieferten Anhang (den es
bei Homer natürlich gar nicht gibt) in einem völlig neuen, nie
erahnten Licht. Und das alles in einer so klaren und
einzigartigen künstlerischen Sprache, dass es weit mehr als
Satire ist, sondern ein überragendes Erzählkunstwerk. Was für
eine großartige, fast unheimliche, ja geniale Idee ihm zugrunde
liegt! Das muss man einfach hören. Einer der hervorragendsten
Texte des 20. Jahrhunderts, verfasst im Jahr 1917, erstmals
veröffentlicht 1931. Und ein (Weihnachts-)Geschenk für all jene,
die Freude daran haben, sich von Literatur auf hohem Niveau
unterhalten zu lassen. – Es liest Volker Drüke. Frohes Fest!
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