Christian Karagiannidis – über ein Gesundheitssystem am Limit und seine konkrete Vorschläge zur Rettung

Christian Karagiannidis – über ein Gesundheitssystem am Limit und seine konkrete Vorschläge zur Rettung

Wer ist Christian Karagiannidis? Prof. Dr. Christian Karagiannidis ist einer der bekanntesten Experten im deutschen Gesundheitswesen. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensiv- und Notfallmediz...
45 Minuten

Beschreibung

vor 8 Monaten
Wer ist Christian Karagiannidis?

Prof. Dr. Christian Karagiannidis ist einer der bekanntesten
Experten im deutschen Gesundheitswesen. Er ist Facharzt für
Innere Medizin, Präsident der Deutschen Gesellschaft für
Internistische Intensiv- und Notfallmedizin (DGIIN) und war
Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung.
Karagiannidis ist bekannt für seine direkte, datengestützte und
oft unbequeme Analyse der Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Aktuell beschäftigt er sich mit der tiefgreifenden Transformation
des Systems – unter anderem in seinem neuen Buch
„Gesundheit der Zukunft“, das er gemeinsam mit
Boris Zapatka veröffentlicht hat.
Die Krise des Gesundheitssystems ist längst da

Karagiannidis analysiert anhand belastbarer Daten, dass das
deutsche Gesundheitssystem massiv übertherapiert, ineffizient und
vor allem finanziell an seine Grenzen gestoßen ist. Allein über
eine Million Menschen werden jährlich auf Intensivstationen
behandelt – viele davon mit wenig Aussicht auf Besserung.
Gleichzeitig fehle es an einer sinnvollen Steuerung über die
gesamte Versorgungskette hinweg – von Hausarztpraxen bis hin zu
Pflegeheimen. Es sei ein System ohne Begrenzung gewesen, sowohl
ethisch als auch finanziell. Die Folge: Überforderung,
Ineffizienz und kaum nachhaltige Versorgung.
Die demografische Zeitbombe und wirtschaftliche Risiken

Ein zentrales Thema der Folge ist der demografische Wandel: In
den nächsten zehn Jahren werden jährlich ca. 500.000 Menschen
mehr aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden als nachrücken.
Gleichzeitig steigen die Gesundheitskosten rapide. Das führe
nicht nur zu höheren Sozialabgaben für Bürger:innen, sondern
stelle auch eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher
Unternehmen dar. Wenn Lohnnebenkosten explodieren, überlegen sich
Firmen wie VW zweimal, ob sie noch in Deutschland produzieren.
Effizienz durch Daten und Strukturveränderung

Deutschland hat mit durchschnittlich 10–12 Arztkontakten pro Kopf
und Jahr einen weltweiten Spitzenwert – allerdings nicht im
positiven Sinn. Christian Karagiannidis schlägt ein Modell vor,
das sich am niederländischen System orientiert: Wer medizinische
Leistungen in Anspruch nimmt, soll eine kleine Selbstbeteiligung
zahlen (z. B. maximal 1 % des Einkommens), um unnötige
Arztbesuche zu reduzieren. Zudem fordert er die Abschaffung der
strikten Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung
und den Aufbau eines echten hausärztlich gesteuerten
Primärversorgungssystems.
Prävention statt Reaktion

Ein weiteres zentrales Thema ist Prävention. Karagiannidis
spricht sich für gezielte Maßnahmen wie eine Zucker- und
Tabaksteuer aus – mit dem Ziel, Gesundheitsverhalten
ökonomisch zu beeinflussen. Gleichzeitig sollte das Geld aus
diesen Steuern direkt den gesetzlich Krankenversicherten
zugutekommen. So entstünde ein echter
Win-Win-Effekt: gesünderes Verhalten und
gleichzeitig frisches Geld für das unterfinanzierte System.
Digitalisierung als Schlüssel zur Transformation

Christian Karagiannidis betont die Bedeutung der
elektronischen Patientenakte (ePA) – nicht nur
zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen, sondern auch als
zentraler Datenpool für Versorgungsforschung und
Qualitätssicherung. Er fordert eine zentrale Plattform nach
skandinavischem Vorbild, mit der Ärzt:innen schnell, sicher und
maschinenlesbar auf Patienteninformationen zugreifen können. Die
ePA müsse zudem durch „Patient Reported Outcomes“ ergänzt werden
– also durch Bewertungen der Patient:innen selbst.
Selbstverantwortung und Bildung als Hebel

Ein durchgehendes Thema ist die Rolle der Patient:innen. Für
Christian Karagiannidis ist klar: Das System muss
Eigenverantwortung fördern. Dazu gehört
schulische Bildung (z. B. Reanimationsunterricht), aber auch
Belohnungssysteme für gesundes Verhalten, etwa für tägliche
Bewegung oder Vorsorgeuntersuchungen. Gleichzeitig fordert er die
radikale Entbürokratisierung – weg von
Formularen ohne Nutzen, hin zu echter Ergebnisorientierung.
Entlastung durch Pflegekompetenz – mehr als nur Assistenz

Ein großes Potenzial sieht Christian Karagiannidis in der
Stärkung der Pflege. Dabei geht es ihm nicht nur um Physician
Assistants, sondern um echte Advanced Practice Nurses
(APNs) mit eigenen Verantwortlichkeiten und Budgets –
beispielsweise in Form eines Kapitationsmodells:
Pflegekräfte könnten ganze Regionen eigenverantwortlich
versorgen, wie es in England bereits passiert.
Notfallversorgung neu denken

Ein besonders kritischer Punkt: Die Notfallversorgung. Christian
Karagiannidis fordert eine zentrale
Lotseninstanz, die mithilfe von KI und
strukturierter Abfrage entscheidet, ob jemand ins Krankenhaus,
zur Hausärztin oder in die Telemedizin muss. Dafür brauche es
qualifizierte Koordinator:innen und eine bessere technische
Infrastruktur. Inspiration bietet das amerikanische Modell mit
„24/7-Walk-in-Zentren“, die Notfälle effizient abdecken – auch in
ländlichen Regionen.
Vision eines zukunftsfähigen Systems

Zum Abschluss formuliert Prof. Dr. Christian Karagiannidis seine
Vision:


ein starkes hausärztlich zentriertes Primärsystem,

eine selbstständige Pflege mit medizinischer Grundversorgung,

eine digitale Infrastruktur mit echter Nutzbarkeit,

ein klar geregelter Notfallmechanismus,

eine präventionsorientierte Bevölkerung.



Er appelliert an den Mut zur Veränderung – und daran, das System
endlich auf die nächste Generation auszurichten: „Es geht
um unsere Kinder.“


Hier gehts zum Buch – Die Gesundheit der Zukunft


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